KAPITEL 1
Wenn ein Mensch unglücklich ist, dann hat man verschiedene Möglichkeiten, ihm das Glück nahezubringen. Falls er sich jedoch verweigert, sollte man diese Person, die wahrscheinlich an einem Mangel an Einsicht leidet, einfach zum Glücksgefühl zwingen.
Doch aus welchem Grund sollte man sich überhaupt darum bemühen, einen Menschen zum Glück zu zwingen? Dies liegt klar auf der Hand! Wenn dieses Individuum die Mitmenschen mit seinem pessimistischen Verhalten ansteckt, könnte sehr bald das gesamte Volk unglücklich werden! Solch eine Bedrohung sollte man auf jeden Fall zum ‚Wohle des Volkes’ stoppen! Der Außenseiter muss auf jeden Fall zur Besinnung gebracht werden, sodass er den Anschluss an das große, kollektive Glück findet. Erst dann kann er unbefangen mit den anderen Gesinnungsgenossen Schulter an Schulter in eine klar umrissene Zukunft marschieren …
Es erscheint unlogisch, dass jemand diesem Glück nicht folgen will. Bedauerlich für diese Person! Denn: Wer nicht mitmacht, der ist gegen uns. Und wer gegen uns ist, der hat sich automatisch zum Volksfeind erklärt. Deshalb muss derjenige, falls er ein junger Mensch ist, in ein Erziehungslager, und wenn er erwachsen geworden ist, ins Straflager. Dort kann er sich in die richtige Richtung entfalten und zum Wohle des Volkes beitragen, indem er gut arbeitet. Wenn jedoch jemand diese Prüfung aus gesundheitlichen Gründen nicht besteht, liegt das wahrscheinlich an seinem mangelnden ideologischen Niveau.
Mit solchen Gedanken beschäftigte sich Genosse Sergejew, der Leiter des Sonderwaisenhauses. Diese Einrichtung befand sich im ostsibirischen Dorf Ajum und war eigens für schwer erziehbare Jugendliche eingerichtet worden. Sergejew war ein kluger und hochgebildeter Mann und stets stolz darauf, als Oberhaupt dieser Institution für die Erziehung der Waisenkinder Sorge tragen zu dürfen. Die Eltern der Waisen waren im Namen des Volkes als Feinde verurteilt und in verschiedene Straflager geschickt worden. Von dort aus hatten sie keine Möglichkeit, eine Nachricht zu versenden. Sie waren also so gut wie tot, und ihre Rückkehr war im Regelfall ausgeschlossen. Als Erziehungsberechtigter fühlte sich Genosse Sergejew verantwortlich für die fehlerfreie kommunistische Schulung der Abkömmlinge jener Verbrecher. Die Kinder sollten wissen, dass ihre Eltern frevelhafte Taten vollbracht hatten und sollten sich für sie schämen. Es war wichtig, die jungen Seelen auf den richtigen Weg zu führen.
Genosse Sergejew stand auf, zog seinen Feldrock zurecht, ging zum Fenster und öffnete es. Fleckenweise lag noch Schnee, aber die Weidensträucher trieben schon weiche Kätzchen aus. Vor zwei Jahren, Ende 1945, als er noch der politische Führer einer Militäreinheit gewesen war, wurde er vom Gebietskomitee nach Ostsibirien abkommandiert. Das Komitee hielt ihn für eine Stelle als Schulleiter in einem Waisenhaus für besonders geeignet, da er vor dem Krieg eine pädagogische Hochschule in Nowosibirsk absolviert hatte.
Dort, in dem abgelegenen Dorf Ajum, in der Tiefe der Taiga, glaubte der überzeugte Kommunist seine Berufung gefunden zu haben. Sein Schulinternat für Waisen war mehr als bescheiden. Umso mehr war die neue Führungskraft um die einwandfreie Ausbildung der Kinder, um ihre körperliche und seelische Gesundheit besorgt. Die Jungen und Mädchen, es waren nur Jugendliche ab 15 Jahren hier untergebracht, besuchten einen Unterricht, in dem sie umfangreiche Kenntnisse in allen Fachbereichen erwarben. Sie machten gute Fortschritte, da die Disziplin streng war. Jeder Schritt und Tritt wurde beaufsichtigt. An Sportlehrgängen mangelte es auch nicht, da es Pflicht war, die Körperkraft zu pflegen. Ganz nach dem alten Prinzip: Nur in einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist! An Wochenenden wurde den Schülern nahegelegt, sich im Club sowjetische Filme anzusehen oder Bücher in der Bibliothek zu lesen. Dort gab es neben den Werken aktueller sowjetischer Autoren auch eine umfangreiche Auswahl russischer und ausgewählter westlicher Klassiker. Außerdem fanden oft Versammlungen der kommunistischen Jugend, der Komsomolzen, statt. Dort wurden die moralischen Probleme der Zöglinge besprochen und kritisch analysiert. Dies alles unterlag natürlich den Richtlinien der Partei. Falls es bei dem einen oder anderen Teilnehmer Schwierigkeiten gab, wurde dies öffentlich besprochen und beurteilt. Bei Härtefällen wurde der Schuldige sogar vor die Schulleitung geführt.
Auch heute erwartete Genosse Sergejew einen Zögling, der sich nicht der Schulordnung fügen wollte und sogar Sprüche wider die sowjetische Ordnung gemacht hatte.
Sein Sekretär kündigte an, dass der Schüler Nickel angekommen war. Genosse Sergejew nickte: „Herein!“
Daraufhin erschien ein Junge, den der Schulleiter schon einmal ermahnt hatte, weil er sich nicht hatte fügen wollen. Jetzt stand Nickel also wieder vor ihm: Ein siebzehnjähriger Bursche mittlerer Größe, muskulös. Seine schwarzen Augen schauten Sergejew herausfordernd an. Man sah auf den ersten Blick, dass der Junge ein Mischling war. Sein Vater war Russlanddeutscher und seine Mutter Halbjukagirin und Halbchinesin. Diese Tatsachen las Genosse Sergejew nun schon zum zweiten Mal aus den vor ihm liegenden Unterlagen.
„Name?“, fragte der Leiter, obwohl er wusste, wie dieser Junge hieß, doch es war üblich, das Gespräch so zu beginnen.
„Ivan Nickel. Sie wissen ja schon!“, antwortete der Bursche ungezügelt und schaute den Genossen Heimleiter provozierend an.
„Ja, ich weiß, ich weiß“, sagte Sergejew unerwartet sanft. Innerlich kochte er aber. Doch der Schulleiter erinnerte sich an ein Schreiben seines Vorgesetzten, der ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass die Straftaten in seiner Einrichtung gestiegen waren. Um die Zeugnisse der Erziehung zu verbessern, hatte sein Chef ihm empfohlen, mehr pädagogische Mittel einzusetzen. Eins davon war, Ruhe zu bewahren.
„Ich weiß, dass du Ivan Nickel bist, aber du könntest mehr Respekt gegenüber deinem Vorgesetzten zeigen. Jetzt erzähl mal, wie es dazu kommt, dass du es verweigerst, die Komsomolzenlieder mitzusingen und die Versammlungen des Kommunistischen Jugendverbandes zu besuchen. Ich habe dir schon einmal befohlen, dich der Disziplin zu unterwerfen. Was willst du mit deinem rebellischen Verhalten eigentlich bezwecken? Antworte und erkläre mir, wie du dir deine Zukunft vorstellst!“, fuhr Genosse Sergejew fort und schaute dem trotzigen Jungen prüfend ins Gesicht.
Nickel wurde ernst, seine Wangenknochen röteten sich und die Augen begannen zu glänzen, als er Luft holte: „Ja, ich kann Ihnen alles erklären. Ich bin kein kleiner Prügeljunge mehr. Ich habe meine eigene Meinung und möchte sie auch aussprechen! Ich finde, dass man Lieder nur dann singen sollte, wenn man dazu Lust hat und nicht auf Befehl. Und zu den Versammlungen gehe ich nicht, weil sie für mich uninteressant sind. Außerdem hört man da nur sinnlose Belehrungen.“
Der Leiter war erstaunt über die Furchtlosigkeit, mit der dieser Bursche solch schändliche Aussagen machen konnte. Derartige Passagen könnten ihm doch die Freiheit kosten!
„Komsomolez Nickel, du wagst es, deine Abneigung gegen den Kommunistischen Jugendverband zuzugeben, dessen Mitglied du selbst bist! Damit unterschreibst du dein eigenes Urteil. Ich kann deine Mitgliedschaft aufheben lassen und dich ins Straflager verbannen! Ich warne dich zum letzten Mal: Ändere dein Verhalten und gib eine Entschuldigung vor der Versammlung ab! Unterwirf dich den sowjetischen Gesetzen! Bitte denk nach, bevor es zu spät ist!“
Sergejew meinte es wirklich ernst. Dies entging dem Jungen nicht. Einige Sekunden herrschte Stille, dann antwortete Ivan etwas leiser, nun aber entschlossen: „Jawohl, Genosse Sergejew, ich habe schon verstanden, aber es gibt Gründe dafür, warum ich rebelliere. Sie wissen ja, meine Eltern sind als Volksfeinde verurteilt und wahrscheinlich hingerichtet worden. Als ich noch jünger war, habe ich nicht nachgedacht und meinte, dass Mama und Papa nur auf eine bestimmte Zeit von mir getrennt bleiben würden. Aber sie kamen nicht wieder zurück. Danach trat ich in den Komsomol ein, obwohl ich erst sechzehn Jahre alt war. Doch ich befand mich unter dem starken Einfluss meiner Erzieher. Erst später bekam ich Zweifel, als mir mitgeteilt wurde, dass meine über alles geliebten Eltern verurteilt worden waren und ich sie sogar vergessen sollte! Genosse Sergejew, ich glaube aber nicht, dass meine Eltern Verbrecher gewesen sind! Ich bin fest davon überzeugt, dass sie völlig unschuldig und aufgrund einer falschen Anzeige verurteilt worden sind. Niemand hat auch nur einen Beweis erwähnt, welcher dieses Urteil gerechtfertigt. Nur eines höre ich ständig: Sie sind Volksfeinde! Aber das ist nicht so! Es ist nicht wahr! Und ich werde über meine Eltern nie etwas Schlechtes denken oder sagen! Und wohin habt ihr meine kleine Schwester gebracht? Bringt Lena zu mir! Ich möchte für sie sorgen! Wo ist sie? Verdammt! Ihr könnt alles mit mir tun! Ich bin bereit! Ich habe keine Angst, weil ich mir nichts vorzuwerfen habe! Hättet ihr mich lieber zusammen mit meinen Eltern umgebracht!“ Den letzten Satz schrie Ivan und ballte die Fäuste.
Genosse Sergejew wich instinktiv zurück. Er wusste selbst nicht, wo seine Härte geblieben war. Etwas hatten die Worte des Jungen in ihm bewegt. Er versuchte, ein paar Argumente zu finden, die die angespannte Rede und Ivans Zorn von ihm in eine andere Richtung lenken sollten.
„Langsam, langsam, Ivan, nur von Gefühlen sollte man sich nicht leiten lassen. Nicht die Partei und die Gesellschaft sind schuld, dass deine Eltern verurteilt worden sind. Dies ist die Sache des Volksgerichts. Und glaub mir, sobald sich bei der Überprüfung durch die Partei herausstellt, dass die Beweise nicht ausreichend gewesen sind, werden deine Eltern freigelassen. Du wirst sie wieder sehen, so wie deine Schwester. Sie befindet sich in guten Händen in einem anderen Waisenhaus. Glaube mir – ein Gericht kann Fehler machen, aber die Partei mit unserem genialen Genossen Stalin an der Spitze nicht. Nimm deine unüberlegten Beschuldigungen zurück, sonst wirst du das sehr bereuen! Denk darüber nach! Und jetzt geh und beruhige dich. Ich glaube, du bist ein guter Junge. Die Erzieher haben mir berichtet, dass du einer derjenigen bist, die am häufigsten die Bibliothek besuchen und sehr viele Bücher lesen. Ich hoffe, dass du aus der Weisheit der Klassiker lernen kannst: Nicht alles ist schwarz oder weiß. Man darf sich die Zukunft nicht verbauen. Du bist jung und ungeduldig und ich rate dir: werde vernünftig!“
Ivan schaute den Leiter einige Zeit schweigend an. Schließlich presste er ein „Ich denke nach“ heraus und verschwand.
Sergejew ging wieder zum Fenster. Aber jetzt beeindruckte ihn die erste Frühlingspracht nicht mehr wie zuvor. Er sah nur, wie sich eine einsame Gestalt immer weiter und weiter entfernte. Es blies ein noch ziemlich kalter Wind, doch der Gehende knöpfte seinen Mantel nicht zu, er trotzte der Kälte, er missachtete den bequemen Weg und ging über die nassen Flecken, sodass es spritzte. Dann zogen Nebelschwaden ins Tal und verwischten die Sicht. Der Schulleiter zündete sich nervös eine Zigarette an und fing an, in seinem Büro auf und ab zu gehen.
Irgendwie war ihm dieser Junge nicht egal. Er fürchtete, es könnte schlecht mit Ivan enden. Aber ihm helfen? Es war viel zu gefährlich, sogar für Sergejew selbst. Sein Sekretär könnte ihn belauschen und sein Zögern als Beihilfe und somit als feindliches Handeln verstehen. Bei diesem Gedanken wurde ihm ganz heiß. Sergejew wunderte sich, wie er so leichtsinnig hatte handeln könne. Er, ein erfahrener Kommunist und Leiter einer Erziehungseinrichtung, wie hatte er bloß weich werden können? Wie konnte er an seinen ideologischen Prinzipien zweifeln? Wie hatte er ein Mitgefühl für diesen Rebell entwickeln können? Er hatte selbst gegen die kommunistische Ordnung verstoßen, weil er Ivan hatte laufen lassen! Er hätte eigentlich sofort die Geheimpolizei MGB einschalten sollen. Aber er hatte es nicht getan. Und warum? Warum?
Langsam begann er, das Geschehene zu analysieren. Ivan Nickel hatte seine Furchtlosigkeit und seine jugendliche Heftigkeit gezeigt. Ausgerechnet diese Eigenschaften bewunderte Sergejew. Er selbst war einmal so gewesen in jungen Jahren. Und dies hatte ihm auch während des Krieges im Vortrupp geholfen. Aber das alles war mit der kommunistischen Wahrheit verbunden gewesen. Um welche Wahrheit ging es bei Ivan? Sergejew setzte sich auf den ledernen Sessel und schloss die Augen. Jetzt wurde ihm klar, dass er einen schweren Fehler begangen hatte. Er hatte die Situation verkannt, und in dem Moment, als Ivan über seine Eltern gesprochen hatte, eine unverzeihliche Schwäche zugelassen. Sergejew hatte ungewollt Mitleid verspürt. Doch aus welchem Grund? Es ging ja um Personen, die von der Geheimpolizei, von der Partei verurteilt worden waren. Er, Sergejew, hatte Ivan Hoffnung auf eine Änderung und Freilassung der Eltern gegeben! Doch was hatte ihn beeinflusst? Das instinktive Verlangen nach Wahrheit und Gerechtigkeit! Aber es gab doch nur eine Wahrheit, die der Partei! Oder konnte es vielleicht sein, dass sie sich doch manchmal irrte? Sergejew spürte, dass die unerschütterliche Konstruktion der herrschenden Ideologie in ihm zu bröckeln begann. Die klaren Vorstellungen, die er bis heute Morgen gehabt hatte, waren jetzt getrübt. Eine schlaflose Nacht wartete auf ihn.
Am anderen Morgen, es war Sonntag, schneite es. Obwohl schon der Mai zu Ende ging, kehrte der Winter für einige Tage zurück. Das Dorf schien fast menschenleer. Die Taiga umzingelte die kleine Siedlung und schwieg. Der dunkle Nadelwald bestand aus buschigen Zirbelkiefern, Lärchen, Föhren und Tannen. Im Winter versank er im tiefen Schnee, der jetzt langsam auftaute. Die Jagdsaison war zu Ende, nur echten Naturliebhabern konnte man im Wald begegnen. Der junge Iwan Nickel war einer von ihnen. Heute schweifte er in dem Gehölz umher. Er hatte von seinem Vater einen lautlosen Gang geerbt. Gern hätte er dort gelebt: Die Tiere beobachten, den Duft des Waldes einatmen, ein Föhrhaus bauen, eins werden mit der Natur. Ivan ging immer weiter. Es gab nur noch vereinzelte Tierpfade. Bald hellte sich das Gebüsch auf und er sah ein breites Moorfeld vor sich, bedeckt mit hellgrünem Moos. Als er näher kam, bemerkte er, dass sämtliche Bülten mit knallroten Perlen übersät waren. Dies mussten die überwinternden Moosbeeren sein. Im Herbst schmeckten sie hart und sauer, im Frühling dagegen weich und süßlich. Die Beeren wirkten wie ein Elixier. Dazu verbreitete der willde Rosmarin einen starken, würzigen Geruch. Ivan setzte sich auf einem alten Baumstumpf nieder. Es war still ringsumher. Einzelne Lärchen zeigten schon erste buschige, zarte Nadeln. Die vom Himmel herunterwirbelnden Schneeflocken tauten, sobald sie das Moos berührten.
Damals, als Ivan zehn Jahre alt gewesen war, hatte ihn sein Vater zum ersten Mal in die Taiga mitgenommen. Es war Herbst gewesen, die schlanken Lärchen schienen zitronenhell, ihre weichen Nadeln fielen langsam ab. Nach einem ganzen Wandertag hatten die beiden eine kleine Jägerhütte erreicht, die am Ufer eines schmalen gewundenen Flusses gestanden hatte. Die Tür war nicht abgeschlossen gewesen, nur angelehnt. In der Mitte der Hütte hatte ein kleiner eiserner Ofen gestanden, hinter ihm – eine breite Liegepritsche. Auf der anderen Seite hatten ein paar Regale an der Wand gehangen, auf denen etwas gelegen hatte. Johann, so hatte ihn sein Vater auf Deutsch immer genannt, hatte neugierig gefragt: „Was ist das, Papa?“ Sein Vater hatte einige Behälter vom Regal genommen, sie Johann gezeigt und erklärt: „Dies ist ein kleiner Vorrat von Nahrungsmitteln, damit die übernachtenden fremden Jäger etwas zum Essen haben, falls sie nichts mithaben. Wenn sie aber eigene Vorräte besitzen, können sie hier für die Nächsten etwas hinterlassen.“ Johann hatte die Regale durchsucht. Dann hatte er begeistert gerufen: „Guck mal! Da sind ja Dörrfische! Und was ist dies da?“ „Das ist getrocknetes Fleisch vom Ren, mein Sohn.“
In kleineren Schachteln hatten die beiden Schwefelhölzer und Salz gefunden. In der Ecke hatte ein Stapel von trockenem Brennholz gelegen.
„Ich habe ein Talglicht gefunden, Papa!“, hatte sich Johann über seinen neuen Fund gefreut. Bald darauf hatten sie Feuer im Ofen gemacht, um Tee zu kochen. Dazu hat es dann Dörrfleisch aus den Vorräten und das mitgebrachte Butterbrot gegeben. Dabei hatten die beiden über verschiedenste Dinge geplaudert: die Taiga, die Tiere, die Schule und schließlich über den Rest der Familie.
„Was meinst du, Papa, was machen jetzt Mama, Lena und Opa?“
Vater hatte geschmunzelt und gelassen gesagt: „Bestimmt näht Mama etwas, Opa liest Konfuzius und deine Schwester spielt mit der Katze oder schaut sich ein Bilderbuch an.“
„Ja! Ja! Das Buch über Limpopo! Aber hier gibt es keine Bücher“, hatte Johann enttäuscht gerufen.
„Nun ja, mein Sohn, ich kann dir etwas erzählen. Was möchtest du hören?“, hatte sein Vater daraufhin vorgeschlagen.
Johann hatte sich an ihn geschmiegt und leise gebeten: „Erzähl mal von deinen Reisen, Papa.“
Darauf hatte sein Vater begonnen, die abenteuerlichen Geschichten aus seinem beruflichen Leben zu schildern. Als Geologe war er in mehreren Regionen Ostsibiriens tätig gewesen. Da hatte es zahlreiche Begegnungen mit interessanten Menschen und Tieren gegeben. So war der Abend damals dahingegangen und die beiden hatten sich dann auf die schmalen Pritschen gelegt. Bald darauf hatten sie geschlafen. Frühmorgens hatte sein Vater ihn aufgeweckt: „Auf auf, Johann, komm hilf mir!“ Der hatte seine Augen gerieben und wusste nicht, was los war. „Warum so früh? Was wollen wir denn machen?“, hatte er erstaunt gefragt.
„Komm, komm, wir müssen draußen Brennholz sammeln, um den Vorrat in der Hütte aufzufüllen.“
Johann hatte es begriffen und gerufen: „Prima! Damit die nächsten Wanderer oder Jäger genug zum Heizen haben.“ „Stimmt, stimmt, mein Sohn, an die Arbeit!“, hatte der Vater ihn ermutigt. Als sie dann nach einer halben Stunde fertig gewesen waren, hatten sie aus ihren Rücksäcken einige Konservendosen geholt und sie auf die Regale gestellt. Danach waren sie aufgebrochen.
Der Vater hatte Johann auch beigebracht, wie man Birkhühner aufspürt. Dabei hatte er ihm den Umgang mit einer Jagdflinte beigebracht. Am späten Abend waren sie dann müde, aber zufrieden nach Hause gekommen. Mama, die siebenjährige Schwester Lena und Opa hatten ihre Jagdbeute bewundert – zwei schwarze Birkhühner mit roten Kämmen.
Wie lange war dies schon her! Und was war danach gekommen? Der Große Vaterländische Krieg war ausgebrochen. Dessen Auswirkungen hat man auch in dem östlichen Teil der Sowjetunion gespürt. Johanns Vater Jakob Nickel war sofort als Spion der Faschisten abgestempelt worden. Jemand hatte aus dem Nichts entsprechende Beweise dafür an die Geheimpolizei geliefert. Eines Nachts war der Vater mit dem ‚Schwarzer Rabe’ genannten Wagen abgeholt worden. Johanns Mutter war in Tränen ausgebrochen. Johann und Lena hatten ängstlich vor sich hingestarrt. Kurz darauf hat derselbe Wagen auch die Mutter abgeholt, da es einen Verdacht gegeben hat, dass sie als Geschichtslehrerin in der Schule etwas Positives über Japan gesagt hatte. Opa hatte diesen Verlust nicht verkraften können und war an Herzversagen gestorben. Daraufhin waren die Kinder getrennt worden und waren in verschiedene Waisenhäuser gebracht worden.
Mittlerweile hatte es aufgehört zu schneien. Ivan erwachte aus seinen Tagträumen. Er schaute sich um und ging langsam weiter. Es schien, als ob er noch immer eine unsichtbare Last der Vergangenheit auf seinen jungen Schultern trug. Um diese Last abzuschütteln und sich anschließend aufzuwärmen, begann der Junge, auf den Sumpfhügeln herumzuspringen. Dabei spürte er, wie die buckligen, mit Moos bedeckten Anhöhen unter seinen Füßen wackelten. Die Flächen zwischen den unzähligen grünen Kissen waren mit tiefblauem Tauwasser gefüllt. Beim Springen musste man schon eine gewisse Geschicklichkeit besitzen, um nicht ins eiskalte Wasserloch zu fallen. Erst machte es dem Burschen Spaß, aber dann wurde er allmählich müde und wollte an den festen Waldrand zurückkehren. Es waren ihm bis dorthin nur noch ein paar Sprünge übrig geblieben, als er die nächste Bülte knapp verfehlte und ins Wasser plumpste. Schlimm genug, doch es wurde noch peinlicher, als er neben sich eine laute, lustige Mädchenstimme erklingen hörte: „Ah, ah! Wanja! Dich hat es nun kalt erwischt! Komm schnell heraus, da ist es ja richtig tief!“
Bis zum Gürtel versunken, schaute Ivan nach oben und erkannte Marischa, die Förstertochter. „Hallo, Marischa!“, rief der Bursche unerwartet munter und grinste verspielt aus dem Wasserloch heraus: „Ich nehme hier nur ein kurzes Frühlingsbad! Gleich komme ich zu dir!“
Leichter gesagt als getan. Es gab keinen festen Boden unter seinen Füßen und die Moosflächen boten keinen festen Halt. Marischa wollte Ivan helfen und reichte ihm eine lange dünne Holzstange. Er packte an, sie zog, aber der Bursche war schwerer und Marischa verlor selbst ihr Gleichgewicht und stürzte mit Hochgeschrei in den Teich. Ivan fing das Mädchen in seinen Armen auf. Wegen ihrer Nähe wurde ihm plötzlich heiß.
Mit gegenseitiger Hilfe gelang es Ivan und Marischa relativ mühelos, aus dem Wasserloch aufs Trockene zu kommen. Dabei hielten sie sich an den Händen. Zitternd vor Kälte lachten sie laut und sprangen wild herum.
„Was nun, Marischa? Wollen wir das Baden wiederholen?“, schrie Ivan.
„Jetzt nicht! Noch nicht!“, quietschte das Mädchen vergnügt und zerrte den Burschen ins Dickicht.
„Halt! Wohin schleppst du mich, Marischa?“, schrie Ivan gespielt ängstlich.
„Bald! Bald wirst du sehen wohin!“, antwortete Marischa geheimnisvoll blinzelnd. So torkelten die beiden jungen Leute durch das Gestrüpp, bis sie dann schließlich eine Lichtung betraten. Vor ihnen stand ein niedliches Jägerhäuschen.
Hinter einer bunten Bettdecke schauten zwei junge, erhitzte Gesichter hervor. In ihren glänzenden Augen spiegelten sich die hellen Flammen des Eisenofens wieder. Die nassen Klamotten hingen auf einer Leine und leichter Dampf stieg von ihnen empor.
„Ist dir warm, Wanja?“
„Ja! Du glühst, Marischa!“
„Träumen wir, Wanja?“
„Bestimmt, Marischa, gewiss ...“
Danach wurde es still. Nur das Feuer knisterte lustig weiter.
Am nächsten Tag bekam Ivan Nickel beim Unterricht von der Lehrerin einen Tadel, weil er nicht aufmerksam genug war. In der Chemiestunde ging es um Säuren. Ivan, der sonst immer gut war, brachte alles durcheinander, schrieb Einsteins Gleichung an die Tafel, obwohl die nichts zur Sache tat.
Der Bursche war in seinen Gedanken noch immer im Wald bei Marischa. Nach dem Unterricht wollte er sie dort wieder treffen. Deshalb konnte Ivan es kaum erwarten, bis die Schule vorbei war. Als es dann so weit war, lief der Junge die bekannte Strecke entlang. Es waren sechs Kilometer bis zur Hütte. Marischa wartete schon auf ihn. Zuerst aßen sie eine deftige Fischsuppe, ‚Ucha’, die Marischa meisterhaft zubereitet hatte.
„Wo hast du solche prächtigen Barsche geangelt?“, fragte Ivan.
„An der stillen Untiefe bei den drei Birken“, antwortete das Mädchen und schenkte dem Burschen noch einen Teller voll ein.
„Toll schmeckt es! Die Stelle an den Birken kenne ich. Da habe ich im vorigen Herbst einen sooo großen Hecht gefangen“, prahlte Ivan.
„Das hast du nicht, du Lügner! Mit einer Angel kann man einen solchen Hecht gar nicht fangen!“, rief Marischa belustigt.
„Doch! Doch! Ich schwöre es, ich hab’s damals geschafft!“, behauptete Ivan weiter.
„Ach, was du nicht sagst, du Angeber! Ich zeig dir, wie man so einen Unsinn erfinden kann!“, schrie Marischa lachend, riss den Burschen vom Stuhl und stürzte sich auf ihn. Mit lautem Gekreisch wälzten sich Ivan und Marischa auf dem Boden umher. Es ähnelte einem Spiel zweier Tiere, die sich dem Liebesdrang am Frühlingsabend völlig hingeben.
War es wirklich Liebe oder nur Verblendung? Über diese Frage wurde einfach nicht nachgedacht. Ihr Liebesspiel war so, als hätten zwei wilde Gebirgsbäche ihre Ströme vereint und würden mit schwindelerregender Schnelligkeit in die ungewissen Weiten treiben.
Marischa Malinina war etwas älter als Ivan und arbeitete als Forstaufseherin an der Seite ihres Vaters, der in jener Zeit für einige Wochen auf einer Dienstreise war. Ivan kannte das Mädchen schon länger. Aber erst das kalte Bad hatte die jungen Leute wirklich zusammengebracht. Keiner von ihnen dachte über die Zukunft ihrer Beziehung nach. Die Gegenwart wurde im reißenden Rausch ohne Halt ausgelebt. Niemand aus dem Dorf wusste etwas über diese Ereignisse. Nur der dunkle Wald und die jagenden Wolken sahen die Glücklichen.
War das wirklich wahres Glück? Vielleicht nur im kleinbürgerlichen Sinne, so genanntes privates Glück, das mit dem großen Glück des Kollektivs eigentlich nichts zu tun hatte. Nur das Wohl der Gesellschaft hatte zu zählen und sonst gar nichts! Das musste klar herausgestellt werden! Das junge, unreife Glück im Jägerhaus war kurzfristig und das des Volkes dauerte ewig. So könnte Genosse Sergejews Meinung ausgesehen haben. Doch dieser wichtige Mann beschäftigte sich in jener Zeit mit ganz anderen Gedanken. Der Schulleiter hatte sich entschlossen, keine Schwäche mehr zu zeigen. Um allen möglichen Gerüchten zuvorzukommen, sprach er mit dem Parteikomitee und dem Leiter der Kommunistischen Jugend, wobei er seine Meinung über das widrige Verhalten des Komsomolzen Ivan Nickel preisgab. Kurz darauf sprachen sich die Komsomolzen auf ihrer Versammlung ab und beschlossen einstimmig auf die Empfehlung ihres Vorgesetzten hin, Ivan Nickel aus ihren Reihen auszuschließen. Das Parteikomitee billigte den Beschluss der jüngeren Kollegen. Daraufhin wurde der Genosse Sergejew auf die Tatsache hingewiesen, dass die pädagogische Arbeit in dem Waisenhaus zu schwach ausgeprägt war. Sein Zögern bei der strengen Erziehung der Kinder wurde missbilligt. Eine bittere Pille für den Genossen Sergejew. Nach der Sitzung versuchte er, es wieder gutzumachen und schlug seinem Vorgesetzten, dem Genossen Kulikow vor, an einer Jagd auf Elche teilzunehmen.
„Bist du wahnsinnig, Sergejew! Das ist doch strengstens verboten! Außerdem ist auch die Jagdsaison längst zu Ende“, erwiderte Kulikow, ein alter Krieger, zornig und schaute den Anbieter prüfend an.
Der aber ließ sich nicht beirren und sprach schnell weiter: „Keine Sorge, keine Sorge, Genosse Kulikow! Ich habe über alles gut nachgedacht. Ich kann eine Lizenz zum Abschuss eines Elches bei der Jagdüberwachungsbehörde beantragen.“
Diese Worte gefielen Genosse Kulikow. Doch er zögerte noch, als er sprach: „Unsinn, Unsinn, niemand hat ein Recht dazu. Oder gibt es eine Ausnahme?“
Sergejew beeilte sich, den Vorgesetzten rasch weiter zu überzeugen. „Natürlich gibt es Ausnahmen! Im Papier wird es um ein krankes Tier gehen. Ich habe ja einen Bekannten, den Oberjagdinspektor Malejew. Er kommt auch mit. Außerdem ist der zuständige Förster Malinin in den nächsten Wochen nicht anwesend“, beruhigte er den alten Krieger.
„Na, wenn es so ist, dann steht ja nichts mehr im Wege, aber nur mit deiner Verantwortung, Sergejew“, sprach der erleichtert.
„Natürlich! Ich organisiere alles und sage Ihnen Bescheid“, versicherte der Leiter des Waisenhauses. Er war froh, dass sein Angebot angenommen worden war.
Einige Tage später, an einem trüben Freitagabend, wartete Marischa besonders ungeduldig auf Ivan: Er hatte an diesem Tag Geburtstag. Doch er kam mit Verspätung und schien etwas zerstreut zu sein.
„Was ist mit dir, Wanja?“, fragte sie besorgt und schaute ihn prüfend an.
„Ach, nichts Besonderes, Marischa. Sie haben mich aus dem Komsomol gejagt“, gestand Ivan.
Das Mädchen war verwundert: „Ach du liebe Zeit! Warum denn?“
Er winkte mit der Hand ab und sagte: „Ich habe meine Klappe nicht gehalten und mich den üblichen Regeln widersetzt.“ Er versuchte, bei dieser Aussage unbekümmert zu wirken. „Nun genug davon! Jetzt wird gefeiert! Nicht wahr, Marischa?“
Die sprang ihm stürmisch an den Hals und küsste ihm das ganze Gesicht gierig ab. „Viel, viel Glück zum Geburtstag, mein Geliebter“, flüsterte sie Ivan mit heißem Atem ins Ohr und zerrte ihn ins Haus. Dort ging es leidenschaftlich weiter. Doch man muss nicht immer neugierig zuschauen, wenn hinter einer Tür etwas Ungewöhnliches erblüht.
Nur einem schrägen Sonnenstrahl ist alles erlaubt. Er kennt keine Tabus. So schlichen sich am nächsten Morgen einige Sonnenpartikel durch das kleine Fenster. Sie zerstreuten sich auf den rundlichen, federnden Dingen, die sich rhythmisch hoben und senkten. Diese sanften, leicht gebräunten Oberflächen absorbierten schnell das Himmelslicht und erhitzten sich.
„Sieh mal, unsere Decke ist ja längst hinuntergefallen und wir haben das gar nicht gemerkt“, flüsterte Marischa, stand auf und ging zum Ofen. Die Glut war noch rötlich und heiß. Sie legte einige Holzstücke hinein. Es flammte lichterloh auf.
„Pass auf, Marischa, sonst verbrennen noch deine Haare!“, rief der erwachte junge Mann heiter.
„Na und! Lass sie doch verbrennen! Es wachsen neue nach“, erwiderte die junge Frau lächelnd. Ivan schaute seine Marischa begeistert an. Sie war nackt, aber gleichzeitig auch nicht entblößt. Ihre langen, welligen, dunkelblonden Haare bedeckten ihren schlanken Körper, dabei umhüllten sie die wohlgeformten Hüften. Marischa ähnelte mit ihren grün-sprühenden Augen und ihrer besonders reizenden Statur einer ‚Russalka’, einer Nixe.
„Was starrst du mich so an, Unverschämter!“, schrie sie und spritzte kaltes Wasser aus ihrem Becher auf Ivan. Der sprang sofort auf. Sein gut durchtrainierter Körper glich einem Raubritter, der im Nu die launische Seeprinzessin in seine Gewalt nahm. Nun kreisten sie lachend im Raum herum. Später machten sich die Verliebten ein kräftiges Frühstück. Ein zeitloser Tag begann.
Am nächsten Morgen sprach Marischa über ihre Arbeit: „Verzeihung, Wanja, aber heute muss ich eine Runde im Forstrevier machen. Ich habe einen Brief vom Vater bekommen, in dem er erwähnt, dass ich vorsichtig sein soll, besonders wegen den Wilderern. Deshalb möchte er nicht, dass ich einen Alleingang in der Taiga mache.“ Sie schaute Ivan ernst an.
„Ich geh mit dir, meine Liebste, und beschütze dich vor jeglichen Bösewichten“, sprach er und zog seine hohen Stiefel an. „Ich habe ja ganz vergessen, dass du hier nicht nur auf mich wartest, sondern noch seriöse Pflichten ausübst“, sagte Ivan und umarmte seinen Schatz zärtlich. Marischa befreite sich ungern aus seinen Armen und widersprach: „Leider kann ich dich nicht mitnehmen, Wanja, weil du kein Förster bist. Das wäre gegen die Vorschriften. Mein Vater schreibt, dass nur Onkel Matwei oder Onkel Lukjan, die Förster im Ruhestand sind, mich begleiten können. Aber ich möchte mit denen nicht gehen, da sie mich zu jung finden und ich deshalb auf ihre klugen Ratschläge hören muss.“
Ivan betrachtete sie verwundert und sagte: „Aber allein kann ich dich nicht gehen lassen! Es könnte gefährlich werden. Weißt du was? Ich folge dir mit einem Abstand, um dir Rückendeckung zu geben.“ Marischa schaute ihn vertraut an und sagte besorgt: „Danke. Aber dann musst du mich unbewaffnet begleiten, da du keinen Waffenschein besitzt.“
„Ach, ich brauche nichts! Den Wilderer kann ich mit bloßen Händen kalt machen!“
Marischa lächelte und äußerte sich belustigt: „Schon gut, schon gut, du Prahler! Ich erlaube es dir. Es wird ja sowieso nichts passieren. Und wenn doch, dann beschütze ich lieber dich.“ Nach diesen Worten nahm die junge Frau ihren Jagdkarabiner. Sie sah in ihrem Försteranzug wie eine Amazone aus. Ivan bewunderte sie und war stolz, so eine furchtlose Kriegerin begleiten zu dürfen.
Dann war es so weit, und die jungen Leute zogen in den Frühlingswald hinein. Anfangs lachten sie und erzählten sich lustige Geschichten. Später teilten sie sich wie besprochen auf. Marischa ging vorweg und Ivan folgte mit einem gewissen Abstand. Je weiter sie gingen, desto stärker zog die Taiga sie in ihren Bann. Zahlreiche Vögel flatterten und sangen in den duftenden Gefilden, den gelockten weißen Birken und Espen mit ausgeschlagenen klebrigen Blättern sowie in den buschigen Traubenkirschen, die die Sinne mit starkem Äthergeruch berauschten. Höher schwenkten die hellgrünen Lärchen ihre transparenten Gipfel. Diese Bäume ähnelten schlanken Frauen, die vor Lust sprühen. Die dunklen, knorrigen Zirbelkiefern dagegen wirkten wie strenge Wächter des Waldes. In der Tat suchten hier viele Kreaturen und Pflanzen Schutz. Besonders die großen Tiere, die in der hungrigen Nachkriegszeit für die Bevölkerung als einzige Nahrungsquelle dienten, waren betroffen. So beschloss die Regierung, die Jagd auf Hirsche und Elche stark einzuschränken und in einigen Regionen sogar zu verbieten. Eine Ausnahme konnte nur in Form einer einzelnen Lizenzerlaubnis erfolgen. Was die anderen Tiere anging, so war die Jagd auf sie nur vom Herbst bis zum Frühlingsanfang erlaubt. Bei Verstoß mussten die Wilderer mit hohen Geldstrafen rechnen. Im Einzelfall kamen sie sogar ins Gefängnis. Die Verantwortung der Überwachung lag auf Förstern oder auf Forstsaufsehern. Dies war allerdings kein leichtes Unterfangen, da die Wilderer in der Regel gut bewaffnet waren und beim Erwischen erheblichen Widerstand leisteten.
Auch Marischa hatte schon Bekanntschaft mit den Jagdsündern gemacht. Bislang waren dies nur einfache Leute gewesen, die aus Nahrungsmangel gehandelt und nicht viel Schaden angerichtet hatten. Die ließ Marischa meistens laufen. Aber mit denen, die Profit machen wollten, ging sie mit aller Härte um. Sie nahm sie fest und übergab sie der Miliz. Deshalb galt Marischa in ihrem Revier neben ihrem Vater als eine kompromisslose und furchtlose Hüterin der Taiga, obwohl sie erst knapp zwanzig Jahre alt war. Ihr Vater, der alte Malinin, war stets stolz auf seine Tochter. Dass sie sich in Ivan verliebt hatte, wusste er jedoch noch nicht. Auch niemand in Ajum konnte sich vorstellen, dass Marischa, offiziell Maria Malinina, zu so etwas fähig war. Denn sie war sonst zu den anderen Dorfburschen immer ablehnend gewesen und hatte keinem von ihnen jemals auch noch die kleinste Hoffnung auf eine Annäherung gegeben. Ivan war eine Ausnahme. Er war fasziniert von seiner Marischa, die unweit vor ihm lautlos durch den Wald schlich.
Ein lauter Knall zerriss die friedliche Idylle des Waldes. Und noch einige weitere folgten! Ivan lief sofort zu Marischa. Sie war stehen geblieben und lauschte. Dann berieten die beiden, wie sie weiter handeln sollten. Marischa sagte leise: „Es war ein ‚Sauer’, ein deutsches Jagdgewehr. Das bedeutet, wir haben es hier mit Prominenz zu tun. Und jetzt, Wanja, hör genau zu, was ich dir sage. Und bitte, keine Widerrede.“ Eine Weile flüsterten die jungen Leute miteinander, dann trennten sie sich. Marischa ging allein in die Richtung, wo die Schüsse gefallen waren. Er aber huschte seitlich ins Gehölz.
„Guter Schuss, Leonid Matwejewitsch! Sie haben den Elch direkt hinter das Schulterblatt getroffen!“, rief Sergejew zufrieden.
„Das stimmt, aber erst der zweite Schuss hat ihn erwischt“, gab Kulikow zu. Nun betrachteten die Jäger den mächtigen Bullen, der reglos auf dem grünen Moospolster lag. Seine großen dunklen Augen, halbgeschlossen, wurden matt. Das hellbraune Fell des Tieres war fleckenweise noch mit langer Winterwolle bedeckt. Der knochige Körper war mager. „Na also, Genossen, was nun? Seid ihr zufrieden?“, fragte der herangekommene Oberjagdinspektor Malejew und fuhr mit einer überraschenden Wende fort: „Ihr habt allerdings unsere Abmachung nicht eingehalten und mehr Schüsse abgegeben, als nötig waren. Dafür seid ihr mir nun etwas Zusätzliches schuldig. Ich sag mal 1000 Rubel sind genug und ich habe mit der Sache nichts mehr zu tun.“
Kulikow und Sergejew schauten ihren Komplizen erstaunt an. Solch eine Art von Erpressung hatten sie von dem Beamten nicht erwartet. Sergejew versuchte Luft zu holen. „Moment mal, Nikolai Alexejewitsch, ich habe ja aus Not geschossen. Dabei wollte ich nur den anderen Elch vertreiben, ohne ihn zu verletzen. Und außerdem haben Sie uns versprochen, eine Lizenz auszustellen. Für die habe ich bereits schon bezahlt!“
Genosse Malejew blieb unbeeindruckt und widersprach: „Nichts trifft zu! Es ging um ein krankes Tier und dies ist kerngesund. Ich gehe jetzt und warte auf mein Geld. Beeilt euch! Und denkt daran – ihr habt mich nicht gesehen!“ Nach diesen Worten verschwand Malejew. Wie vom Blitz getroffen, standen die beiden Wilderer eine Zeitlang versteinert da. Doch plötzlich ging der alte Krieger auf Sergejew los: „Du Schuft! Was hast du mir bloß angetan? Wo ist die Lizenz? Weißt du, was ich aus dir mache?“ „Keine Sorge, meine Herren, das regle ich schon!“, ertönte hinter den Männern eine strenge Frauenstimme. Sie drehten sich um und wurden sprachlos. Vor ihnen stand Marischa mit einem Karabiner in den Händen.
Als Erster fand Sergejew die Sprache wieder, er sprach sie ungewöhnlich freundlich an: „Ah, guten Tag, Marischa! Wie geht es dir? Wie du siehst, sind wir als Erste auf diese Untat gestoßen und fragen uns, wer es wohl gewesen war, der das Tier erlegt hat.“
Die Forstsaufseherin trat näher und sagte ernst: „Erstens, ich bin für euch keine Marischa, und zweitens, Ihr seid es gewesen! Das ist doch klar! Wer sonst! Legt eure Gewehre nieder und antwortet für das Protokoll!“
Nun wurde der alte Krieger zornig. Er ergriff wütend das Wort: „Wer, junge Dame, sind Sie überhaupt? Und wieso haben Sie ein Recht, mit uns so unhöflich zu sprechen?“ Er wandte sich fragend an Sergejew. Dieser wurde blass und antwortete hoffnungslos: „Sie ist die Forstsaufseherin. Da kann man nichts machen. Fügen wir uns.“
Einige Momente herrschte Stille. Kulikow ging Furchtbares durch den Kopf: Ich bin verloren, meine Karriere, mein weiteres Leben stehen auf dem Spiel. Diese Gedanken und das zuvor zu sich genommene Glas Wodka führten zu einer schrecklichen Kurzschlussreaktion. Er griff zu seinem ‚Sauer’ und schrie: „Das lass ich mir nicht bieten!“ Er zielte auf das Mädchen. Marischa schaute mit einem brennenden, verächtlichen Blick auf die erhobene Flinte. Sie zeigte keine Angst. Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Aus dem nahen Busch sprang ein geballter Körper heraus und warf Kulikow zu Boden. Der Doppelläufer ging los. Zwei Schüsse prallten schräg zur Seite. Da, in ein paar Metern Entfernung, hatte der arme Sergejew gestanden. Es blieb ihm keine Chance. Die doppelte Bleiladung zerfetzte seinen Körper und er fiel schwer zu Boden. Der erschlaffte Kulikow ließ sich von Ivan die Hände fesseln. Daneben ließ sich Marischa still nieder. Sie war tief geschockt. Niemand sagte ein Wort. In der Stille hörte man das Gluckern einer Quelle. Doch alle wussten, dass es dort keine Quelle gab. Umso schrecklicher war der Gedanke daran, welche Flüssigkeit das wohl sein konnte. Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis die Anwesenden einen Pferdewagen kommen hörten. Es waren Holzfäller, die die Schüsse während ihrer Arbeit gehört hatten. Als die Arbeiter die grauenhafte Szene gesehen und von Ivan über das Unglück mehr erfahren hatten, eilten sie schnell ins Dorf. Die Dorfbewohner und die örtliche Miliz kamen, alles Weitere geschah wie im Albtraum ...